So umschreibt Anna (Name geändert), eine Aussteigerin, die vom 5. bis zum 19. Lebensjahr bei den Zeugen Jehovas aufgewachsen ist, diese Sekte. Sie sei ihm wahrsten Sinne des Wortes einer Gehirnwäsche unterzogen worden, d.h. ihr Gehirn sei umgepolt worden. Raffiniert seien psychologische Tricks angewendet worden, so dass sie beispielsweise gemeint habe, sie sei kritisch. Aber sie habe lediglich die Argumente der Sekte verinnerlicht und auf Biegen und Brechen vertreten. Niemand und nichts hätte sie aus dieser von «Liebe» geprägten und euphorisierenden Gemeinschaft herauslocken können, auch nicht die Lehrpersonen, die ihr haben helfen wollen. Am idealisierten Bild der Zeugen Jehovas hat Anna so lange festgehalten, bis sie immer wieder vor der ganzen Gruppe beschämt worden ist, obwohl sie alle vorgegebenen Regeln eingehalten hat. Nachdem ihr Körper mit der Zeit schlapp gemacht hat (Essstörungen, Selbstverletzungen, Depressionen), hat Anna von einem Tag auf den anderen die Sekte verlassen. Seitdem – und das sind nun mehr als 20 Jahre her – hat sie ihre Mutter und ihren Stiefvater nie mehr gesehen. Erst nach und nach durchs Erzählen und nochmalige Darüberreden hat sie das, was sie erlebt hat, einordnen können und begonnen, ihr Trauma zu verarbeiten.
Mit solchen und ähnlichen Geschichten haben sich in der Variowoche «Sekten und Trendgemeinschaften» vom 26. bis 29. September 18 Schülerinnen zusammen mit den Lehrpersonen Jan Erik Antonsen und Christine Stuber auseinandergesetzt. Wir haben ausgewählte Sekten wie Shincheonji, Lichtarbeit (Christina von Dreien) oder das Neugermanentum näher kennengelernt, zum Beispiel in einem Workshop mit den Sektenexperten Georg Otto Schmid und Jasmin Schneider von der Evangelischen Informationsstelle Kirche, Sekten, Religionen (relinfo), durch Recherchen, Auswertung von Ehemaligen-Berichten und Betroffene. Beim Besuch der Migrationskirche «Christ International Church» in Baden haben wir eine beobachtende Rolle eingenommen. Der Film «The Witness» mit Harrison Ford hat uns auf humorvolle Weise die Funktionsweise einer problematischen Gemeinschaft aufgezeigt. Immer wieder haben wir unsere Erfahrungen anhand von Merkmalen problematischer Gemeinschaften kritisch beleuchtet und uns gefragt, worin die Attraktivität solcher Gemeinschaften gerade auch für junge Leute liege und warum die Mitwirkung in einer solchen Gemeinschaft auch bedrohlich oder geradezu gefährlich sein kann.
Es ist wohl allen Schülerinnen deutlich geworden, dass gerade Bildung (und nicht zuletzt im Bereich «Religion, Kultur, Ethik») junge Menschen davor bewahren kann, in die Fänge einer Sekte oder problematischen Gemeinschaft zu geraten.
Christine Stuber
